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10.04.2010-09.2010


Alina Szapocznikows verletzliche Fetische ihrer selbst


 

Alina Szapocznikows Skulpturen des Selbst

Die Arbeiten von Alina Szapocznikow (1926-1973), ausgestellt im Münchner Kunstparterre (2010), sind Fetische. Der Fetisch macht einen wichtigen Teil der Körperpsyche aus, der wesentlich zur Bildung der Subjektivität beiträgt. In Szapocznikows Werk sind Fetische nichts anderes als das ordnende Prinzip der Verkörperung ihrer Skulpturen und Zeichnungen. Die im Kunstparterre gezeigten Werke Plongée (1968), Shattered (1960), Bouche en Marche (1968), Seins (1968), Lampe-Bouche I (1966), Grand Tumeur III (1969) und Portrait Barbara Kusak (1955) stellen Fetische menschlicher Verletzbarkeit dar.

Fetische erscheinen selbst im Titel von Szapocznikows Arbeiten. Laut dem französischen Psychoanalytiker Béla Grunberger, der Freuds Fetischismus von 1927 weiterentwickelte, gehen Fetische auf die Kindheit zurück. Tatsächlich stellen sie Erinnerungsmale der körperlichen Erfahrung des Kleinkindes dar. In den Worten Grunbergers ist der Fetisch ein Erinnerungsmal der kindlichen jouissance. Erinnern wir uns daran, dass jouissance zugleich Leiden und Orgasmus ist.

Der Fetisch ist eine körperliche Synekdoche der Subjektivität, der während der Kindheit entsteht. Er verfolgt die Kunst Szapocznikows, die sich durch Andenken und Liebe auszeichnet. Fetischismus ästhetisiert und psychologisiert Szapocznikows Skulpturen und Zeichnungen und bedingt daher die Stärke ihrer Kunst. Es ist genau diese fetischartige Eigentümlichkeit ihrer Arbeiten, die sie auch heute zeitgemäß erscheinen lässt.

Szapocznikows Kunst gründet auf einer Ästhetik der Fragmentierung, die so charakteristisch für den Fetischismus ist. Der Körper, und im Besonderen der weibliche Körper, wird verwandelt oder vernichtet sowohl durch Lust als auch Schmerz und wird extremen sinnlichen und existentiellen Erfahrungen ausgesetzt. Die Bruchstückhaftigkeit und die Sinnlichkeit des Körpers in ihrer Kunst weisen auf eine starke Verbindung mit dem Unbewussten und dem Sexual- und Zerstörungstrieb hin. Zerstörung spielt eine große Rolle, wie die partielle, zergliederte Beschaffenheit der Figuren nahelegt. Die Künstlerin drückt Sexualität in der erotischen Beschaffenheit ihrer Themen und in der sinnlichen Bearbeitung der plastischen Materie aus. Die Arbeiten Szapocznikows stellen Frauen dar, die in einem gewaltigen Orgasmus auseinander gerissen wurden. Ihre Arbeiten sind nicht nur körperlich, sondern auch äußerst emotional und verkörpern Sinnlichkeit und Gefühl. Durch das Medium der Bildhauerei drückt die Künstlerin die sexuellen Arbeitsabläufe des Unbewussten aus.

Das Wort „Fetisch” stammt vom lateinischen Verb facere ab, das „machen” bedeutet. Szapocznikow schafft (scheinbar leblose) Objekte, die durch ein Innenleben beseelt und erotisch aufgeladen sind und die persönliche und große Geschichten erforschen.

 

Die Ethik der Bildhauerei

Die Kunst Szapocznikows handelt von der menschlichen Verletzbarkeit. Als jüdisch-polnische Warschauerin und Pariserin, die Ghettos und Konzentrationslager überlebte, hat Szapocznikow ihre Subjektivität archiviert: Ihr Körper und Geist werden zum Erinnerungsmal (oder um es mit ihren Titeln zu benennen: „fetish”, „herbarium”, „biological sculptures”) des Überlebens. Ihre Archive zeugen von Leid und Überleben, von Elend und dem Erhabenen, von dem Trauma und der Zelebrierung des Lebens.

Szapocznikows Kunst ist Kunst nach dem Holocaust. Sie erinnert an die circonfession der Kunsthistorikerin Griselda Pollock: „Ich möchte über den Tod reden ohne zu viele meiner eigenen metaphorischen Täuschungen einzubringen. Ich möchte über ihn mit Hinblick auf Blut, Scheiße, Blähungen und Gaskammern reden. Ich möchte, dass er verkörpert wird.”

Die Skulptur Shattered (1960) verkörpert, wie der Titel andeutet, Trauma: Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes verzerrt, zerstört, entstellt. Ihre körperliche Verwundung verletzt unsere Gefühle. Das Werk könnte als psychophysisches Desaster bezeichnet werden. Etymologisch betrachtet stammt das Substantiv „Desaster” vom Kataklysmus der Sterne ab. Szapocznikows Skulptur ist eine kosmische Katastrophe in ihrem eigenen Mikrokosmos. Das Gebrechen ist hier sowohl elementar als auch mental. Das Desaster führt nicht zum Schweigen, stattdessen scheint die Skulptur aufzuschreien. Der schrille Schrei folgt dem Schrei (1893) von Edvard Munch, den der Ideenhistoriker Nigel Spivey als das Urbild des Holocausts sieht. Die Skulptur Shattered wiederum verkörpert die Schoah: Szapocznikows Werk gleicht dem äußersten Leid, an dem sie selbst beteiligt war. Die Künstlerin überlebte sowohl die Ghettos von Pabianice und Łódź als auch die Konzentrationslager.

Szapocznikow interessiert sich für das Göttlich-Menschliche. Ist ihre Kunst ethisch? Wie kann sie ethisch sein? Für Emmanuel Levinas, Julia Kristeva und Griselda Pollock ist Ethik die erste Philosophie – prote philosophia. Zygmunt Bauman schrieb über Levinas: „Seine moralische Welt erstreckt sich von mir zum Anderen.“ Zwischen diesen beiden ist Ethik möglich, zwischen Ich und Du, wie Martin Buber schrieb.

Die lebhaften Farben der Büste Portrait Barbara Kusak (1955) verkörpern die Gastfreundlichkeit der Künstlerin gegenüber dem Modell. Mit Gefühl und Ethik durchbricht das Werk die Konventionen des sozialen Realismus. Die Skulptur zeugt von einer reichen Wechselbeziehung zwischen der Künstlerin und ihrem Modell. Der Betrachter begegnet einer Nachkriegs-Nofretete in einem allzu einfachen Rollkragenpullover. Die Pigmente auf dem Gips weisen zugleich auf die ägyptischen Farben als auch auf das modische Make-up der 1950er Jahre hin. Das erotische Interesse der Öffentlichkeit ist in der Schminke angelegt. Es geht um die Universalität der Intersubjektivität, der menschlichen Beziehungen. Das Modell, die Künstlerin und der Betrachter beginnen eine geschichtsübergreifende Unterhaltung. Der gastliche Dialog überwindet den Tod.

Die Skulptur Barbara Kusak besteht aus drei Farben: Rot, Gelb und Blau. Szapocznikows fetischistisches Porträt der Barbara Kusak befindet sich im kunsthistorischen Dialog mit der fetischistischen Nofretete mittels der einladenden Intertextualität. Der esoterische Fetischismus Ägyptens unterhält sich mit dem Warenfetischismus der fünfziger Jahre, der im damaligen sozialistischen Polen zwar begrenzt, aber doch vorhanden war. In ähnlicher Weise verweist Szapocznikows Nike (1959) zurück auf die Antike: Ihr Fetisch ist die antike Mythologie und Kunst, die durch den Horror des 20. Jahrhunderts beschmutzt wurde.

 

Die weibliche Berührung und die weiblichen Körperteile

Der Tastsinn, oder der haptische Sinn, spielt eine wichtige Rolle in den Skulpturen Szapocznikows, deren Entstehung das Resultat der kreativen Berührung ist. Die sinnliche Oberfläche der Werke lädt den Betrachter auch dazu ein, sie anzufassen. Szapocznikow arbeitete mit einem Material, das die Spur jeder einzelnen Berührung festhielt. Sie schrieb, dass sie „die Notwendigkeit verspürte, sich direkt mit dem Material auseinanderzusetzen, es zu zerknittern, die Materie mit meinen Fingern zu berühren. Dieser körperliche Kontakt gibt mir das Gefühl, dass ich mich selbst der Skulptur hingebe.“ In ihren Werken schafft die Bildhauerin Abdrücke sowohl der glücklichen als auch der schmerzlichen Aspekte ihres sinnlichen Erlebens. Szapocznikow selbst hat erklärt, dass ihre Gesten auf den menschlichen Körper gerichtet seien, auf die erogenen Zonen mit ihren flüchtigen Empfindungen.

Die Skulpturen Szapocznikows liefern ein gutes Beispiel der materiellen, sinnlichen Ausdrucksweise der Weiblichkeit. Szapocznikows Faszination mit dem Weiblichen kommt in den Formen ihrer Objekte, in den unvollständigen weiblichen Gesichtern, Mündern und Bäuchen klar zum Ausdruck. Ihr Hauptmotiv ist das Weibliche sowohl als Symbol des Lebens als auch als Objekt der Zerstörung – eine lebenswichtige Kraft, die erblüht und stirbt und einen Abdruck auf dem Gips hinterlässt. Szapocznikow schrieb, dass sie die flüchtigen Momente des Lebens erfassen wolle, seine Paradoxe und Absurditäten, mittels der Eindrücke des menschlichen Körpers. Indem sie organisches Bitumen und Polyester verwendete, versuchte sie, den Tastsinn einzufangen. Sie glaubte, dass von allen Beispielen an Gebrechlichkeit der menschliche Körper das verletzlichste sei – die alleinige Quelle aller Freude, allen Schmerzes und aller Wahrheit.

Bei der Schaffung ihrer Skulpturen aus Körperteilen und Fetischen bevorzugte Szapocznikow die Gipstechnik, die die Skulptur mit der Berührung verknüpft. Eine somatische Eigenschaft auf das zu formende Material zu übertragen, bedeutet, die Unmittelbarkeit der Berührung festzuhalten – bildhauerische Gestaltung anhand von Berührung. Im Jahr 1967 gestaltete Szapocznikow die Gipsabgüsse des Bauches von Arianne, der Lebensgefährtin des Schriftstellers Roland Topor. Im Winter 1967/1968 schuf sie mehrere Muster dieser Gipsabgüsse – eine Serie mit dem Titel Stomachs, für die sie Bäuche in verschiedenen Anordnungen und Materialien kreierte, wie etwa Bäuche in Kissenform aus weichem Schaumstoff oder aus Marmor, dem Material der monumentalen Bildhauerei. Eine der Skulpturen aus der Serie La Ronde/The Round One (1968) aus Polyurethan besteht aus zwei nahe beieinander platzierten braunen Bäuchen, die aus einem dunklen, ovalen Material hervortreten. Die Körpersubstanz taucht aus einer urzeitlichen Masse hervor und gleichzeitig in sie hinein, wie in ihrem weiblichen bildhauerischen Meisterwerk Plongée (1968).

Diese Verbindung von Natur, Körper und Material mit der Weiblichkeit ist an sich problematisch, da es die ewigen weiblichen Stereotypen bestätigt. Eine philosophische Tradition schreibt dem Mann Intellekt, Geist und Wille zu, während die Frau sich zur fügsamen Materie des Körpers und der Natur wandelt. Wie das Beispiel der feministischen Philosophin Luce Irigaray deutlich zeigt, verstehen kreative Frauen den subversiven Wert von Verkörperung und Materialisierung. Wie Szapocznikow erklärte: „Meine ganze Einstellung zur Kunst ist biologisch, und ich greife oft auf die Natur zurück.“ In den 1960er Jahren praktizierte sie eine Kunst der organischen Abstraktion, indem sie in ihren Werken auf die biologischen Formen der natürlichen Welt hinwies.

Die persönlichen Werke Szapocznikows transzendierten die Tradition der polnischen Kunst und eröffneten eine neue Sicht. Sie sind Teil der internationalen anti-modernen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre, die von Bildhauerinnen verfochten wurde, die sich mit dem Thema der Verkörperung auseinandersetzten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die biomorphen Skulpturen von Louise Bourgeois, Eva Hesse und Mária Bartuszová aus den 1960er und 1970er Jahren zu erwähnen. Szapocznikow ist ein weiteres weibliches Genie dieser alternativen Tradition der Kunst des 20. Jahrhunderts. In der polnischen Kunst ebnete sie den Weg für Frauen wie die Bildhauerinnen Barbara Falender und Teresa Murak, die von ihr inspiriert wurden. Die Künstlerinnen haben die Kontrolle über ihre Identität und ihre Weiblichkeit übernommen, indem sie sich selbst in dem Material ihrer Skulpturen ausdrückten. Ihre Kunst ist körperlich, erotisch, sexuell, materiell, autobiographisch und introspektiv. Allen voran Szapocznikow haben diese Künstlerinnen eine einzigartige Ausdrucksweise der Körperskulptur entwickelt, die es dem Betrachter nicht nur erlaubt, die Psychohistorie der Gestaltung, sondern auch die der modernen Mentalität nachzuvollziehen.

Wenn man in der Kunst von Weiblichkeit oder Geschlecht spricht, muss man oft mit Protest rechnen, aber Kunst ist geschlechtsspezifisch und sie erotisch zu entladen ist eine Art von Puritanismus und kalter Intellektualisierung. Das Beispiel Szapocznikows, deren Werk tief im weiblichen Körper und in der weiblichen Sexualität verwurzelt ist, offenbart den Wert des Weiblichen in der Kunst.

Sofern der Fetisch im Mittelpunkt von Szapocznikows Werk steht, so wird er durch die weibliche Verkörperung vermittelt. Unserer Ansicht nach wird der Fetisch hier mit dem Trauma konfrontiert, aber er führt zum Leben, zur Liebe zum Lebendigen (Biophilie) und zur Hoffnung auf eine Neubelebung nach dem Tod (tikkun auf Hebräisch). Schmerz zieht kreative Freude an und Leid weicht dem Jubel der bildhauerischen und zeichnerischen Tätigkeit, als ob die Künstlerin „ihre Tränen unterdrücken würde, um sich besser ins Leben stürzen zu können.“

Tomek Kitliński und Paweł Leszkowicz 2010

Deutsche Übersetzung: Julia Eames


Eine umfassende Ausstellung von Szapocznikows Skulpturen ist von Anda Rottenberg kuratiert worden: Alina Szapocznikow 1926-1973 (Warschau: Galeria Sztuki Wspólczesnej Zachęta, 1998). Cf. auch Katarzyna Murawska-Muthesius, „Paris from Behind the Iron Curtain”, in Paris. Capital of the Arts, 1900-1968, Sarah Wilson et al. (Hrsg.), (London: Royal Academy of Arts, 2002), p. 260. Einer von uns hat sich an einer Interpretation Alina Szapocznikows Werkes versucht in einem Buch über die unheimliche Fremdartigkeit in Julia Kristeva: Tomek Kitliński, Obcy jest w nas. Kochac wedlug Julii Kristevej, (Krakau: Aureus, 2001).

„I want to talk about death without too many of my own metaphorical delusions. I want to talk about it in terms of blood, shit, bloating, gas chambers. I want it to be embodied.” Griselda Pollock, „Deadly Tales”, in Looking Back to the Future. Essays on Art, Life and Death, (Amsterdam: G+B Arts International, 2001), p. 386.

Alina Szapocznikow, „Twarz w ‘Zwierciadle’”, in Alina Szapocznikow 1926-1973 (Warschau: Galeria Sztuki Współczesnej Zachęta, 1998), p. 157.

J. Waltoś, „Alina Szapocznikow”, Art and Business 1993, No. 9/10: 51.

Alina Szapocznikow, „Korzenie mego dzieła wyrastają z zawodu rzeźbiarza”, in Alina Szapocznikow 1926-1973 (Warschau: Galeria Sztuki Współczesnej Zachęta, 1998), p. 162.

Alina Szapocznikow, „Rzeźby oddychają dopiero w przestrzeni”, in Alina Szapocznikow, op.cit., p. 156.

„... choked back her tears to better bite into life.” Julia Kristeva, Colette, in der Übersetzung von Jane Marie Todd (New York: Columbia University Press, 2004), p. 6.




 

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