KUNSTPARTERRE


KÜNSTLER

AUSSTELLUNGEN >

TEXTE

KATALOGE

KONTAKT




10.04.2010-09.2010


Vorwort zu der Ausstellung "Skulpturen und Zeichnungen von Alina Szapocznikow"


 

Alina Szapocznikow, die im Jahr 1973 verstorbene polnische Künstlerin, wird erst in jüngster Zeit mit ihrem bedeutenden und einzigartigen Werk an Skulpturen und Zeichnungen in Deutschland, dem westlichen Europa und darüber hinaus auch in den USA auf breiter Front wahrgenommen. Woran mag das liegen?

Auch ich bin erst vor wenigen Jahren auf dieses Werk in der Galerie Czarnowska in Berlin aufmerksam geworden. Die Galeristin hatte damals Unterlagen zu Arbeiten dieser Künstlerin ausgebreitet. Ein Blick über die abgebildeten Skulpturen genügte, um zu begreifen, dass sich die Künstlerin sehr direkt mit dem menschlichen Körper beschäftigt hat. Dass die Arbeiten im wesent­lichen schon ab den 50’er bis frühen 70’er Jahren entstanden, machte mich umso neugieriger. Waren dies nicht die Schaffensjahre, in denen auch Paul Thek seine Reliquiare und Installationen geschaffen hatte? Ich wollte mehr wissen über diese Künstlerin, sammelte alles verfügbare Material und hatte Gelegenheit, verschiedene Arbeiten zu sehen: Zunächst in der Ausstellung der Galerie Czarnowska 2007; dann auf der Documenta IX in 2007 die Arbeit 'Fotoskulptur'. Es gab weitere Ausstellungen, in der Galerie Capitain und wieder in der Galerie Czarnowska. Ein umfangreiches Konvolut von Arbeiten aus allen Schaffens­phasen war in Prag in 2008 ausgestellt. Präsentiert waren die Arbeiten dort jedoch chronologisch streng getrennt. Auch im Museum in Poznan/Polen, das ich besuchte, waren ihre Skulpturen aus den 50’er und frühen 60’er Jahre räumlich von denen der späteren 60’er und 70’er Jahre separiert. Mich interessierte mehr und mehr der Zusammen­hang, die Interaktion zwischen früheren und späteren Arbeiten. So reifte die Idee zur Ausstellung im Kunst­parterre heran. Ich halte das hier beispielhaft fest, weil es eine Erfahrung war, die auch andere so oder ähnlich gemacht haben dürften.

Alina Szapocznikow’s Leben wurde früh so grausam von Deutschland geprägt, dass sie künftig dies Land mied und dann einen Bogen darum machte. So ging sie nach der Befreiung aus dem KZ zunächst zur Ausbildung nach Prag, von dort weiter nach Paris. In diesen Jahren entstehen bereits zahlreiche Skulpturen. 1951 übersiedelt sie nach Polen um mitzuwirken, den Sozialis­mus und eine gerechtere Welt aufzubauen. Sie reichte sofort Arbeiten in öffentliche Ausstel­lungen und für Wettbewerbe um Skulpturen im öffentlichen Raum ein. So wurde sie früh in Polen als Künstlerin bekannt, nahm Staatsaufträge für Denkmäler an, war in vielen Aus­stellungen präsent und konnte auch Arbeiten im Ausland zeigen; so schließlich auch auf der Biennale in Venedig 1962. Ihre Werke der frühen Zeit sind klassische Reliefs, Köpfe, Büsten bis hin zu einem Stalin-Monument. In ihrer bildhauerischen Arbeit wird ab Mitte der 50’er Jahre eine Abkehr von der sozrealistischen Doktrin sichtbar, vielleicht Folge einer politischen Desillusionierung. Porträts ihrer Freunde (in der Ausstellung 'Portrait Barbara Kusak' von 1955) stehen an der Schnittstelle und leiten einen Rückzug der Künstlerin vom öffentlichen Auftrag und hin zum Persönlichen, später Intimen in ihrem Werk ein. Die Skulpturen gleichen mehr und mehr deformierten Körpern oder Körperteilen. Nach dem Tod der Mutter 1963 zieht sie schließlich wieder nach Paris, behält aber noch Wohnung und Atelier in War­schau. In den Jahren zwischen 1963 und 65 entstehen spezielle Assem­blagen unter Nutzung von vorgefundenen industriellen Maschinenteilen, in die Körper­frag­mente hinein gespannt sind. Nachdem schon 1962 ein Abguss ihres Beines entstanden war, arbeitet sie ab Mitte der 60’er Jahre verstärkt mit Körperabgüssen, begin­nend mit der Abformung von Lippen. Zunächst noch mit klassischem Gips und Bronze, dann mit einem neuen Material, dem Poly­ester. Parallel 'haut' sie klassische Steinskulpturen, so die 'Ventres' (Bäuche), aufgrund der Größe direkt in den Steinbrüchen in Carrara und ließ sie sich bei der Arbeit mit Hammer und Meisel auch ablichten. Bis 1968 konnte die Künstlerin noch zwischen Frankreich und Polen hin und her reisen. Dann wurde ihr endgültig die Rückkehr nach Polen verwehrt; ihr Pass wird eingezogen. Möglicherweise Ergebnis einer antisemi­tischen Welle, denkbar aber auch, dass man sich gegenüber dem Westen nach den Ereig­nissen des 'Prager Frühlings' abschotten wollte. Sie arbeitet neben Polyester auch mit Poly­urethan. In diesem Jahr muss sie den ersten Verdacht einer Krebs­erkrankung verarbeiten. Sie beginnt neuartige Skulpturen, in Polyester eingegossene zerknäulte Zeitungen und Fotos, die keiner exakten Form folgen wollen – wuchernd (Tumeurs, Souvenirs). Parallel arbeitet sie mit Abgüssen des Körpers weiter, aus den Formen entstehen später die Werkgruppen 'Fetische' und 'Desserts'.

Ab den frühen 60’er Jahren bis zu ihrem Tod 1973 lebte sie also in Paris, damals ein Zentrum der Kunst, und war an vielen Ausstellungen beteiligt. Kurz nach ihrem Tod gab es im Musée d’art moderne de la Ville de Paris noch eine Einzelausstellung mit Katalog zu ihren letzten Werkgruppen (Tumeurs, Herbier). Doch hat ihr das damals offenbar nicht zu breiter und nachhaltiger Aufmerksamkeit verholfen. Warum? Einige Gedanken dazu:

Entsprechend zum Lebenslauf, ist das Werk im wesentlichen bis 1963 im 'Ostblock' in Polen, danach im Westen in Frankreich, also in verschiedenen Gesellschaftsystemen ent­standen. Das frühere Schaffen war dann auch überwiegend in Polen und polnischen Institutionen gezeigt worden, das spätere überwiegend in Frankreich. Es fällt auf, dass sie zumeist in Gruppen­aus­stellungen, häufig von der Art 'Jahresausstellung der Skulptur' beteiligt war. Gezeigt wurde jeweils eine, bestenfalls einige ihrer jeweils kurz zuvor entstan­denen Arbeiten – in einem mehr oder minder be­liebigen Zusammenspiel mit Arbeiten anderer Künstler. Größere retrospek­tive Einzelaus­stel­lungen gab es damals eher nicht. Der Zusammen­hang des Werkes in seiner Gesamtheit, also vorhan­dene Beziehungen zwischen einzelnen Arbeiten des früheren und späteren Werkes war zu ihrer Lebenszeit faktisch nicht zu sehen. Auch hatte sie selbst in Frankreich keine Galerie, die sie langfristig im Bezieh­ungs­gefüge von 'Ausstellung', sowie erreichbarer 'öffent­licher Auf­merksamkeit' und 'kommerziellem Erfolg' unter­stützt hätte – obwohl sie in Künstlerkreisen vernetzt und bekannt war. So luden sie zum Beispiel sowohl der renommierte Kunst­kritiker Pierre Restany wie auch der Künstler Man Ray sie zu Ausstellungen ein. Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann beschäftigte sich mit ihrer Arbeit und sie war mit Künstlern befreun­det, u.a. Annette Messager und Christian Boltanski.

Bis zur politischen und gesellschaftlichen Öffnung Zentralosteuropas in den 80’er Jahren, in Polen eng mit der Bewegung der Solidarnosc verbunden, war vom europäischen Westen aus ein Einblick in das zeitgenössischen Kunstschaffen der Länder des ehemaligen Ost­blocks kaum möglich. Die Meinung, dass im kommunistischen, totalitären 'Ostblock' keine Kunst entstehen könne, war insoweit kaum verwunderlich, wenn auch falsch. Der euro­päische, demokratische Westen stand Künstlern im ehemaligen 'Ostblock' reserviert gegen­über (so ist ostdeutsche Malerei beispielsweise bis heute kaum im westdeutschen Museen zu sehen). Aus dieser historisch-politischen Situation heraus wird im europäischen Westen das Werk von Alina Szapocznikow in seiner Gesamtheit jetzt erst nachträglich sichtbar.

In der zweiten Hälfte der 60’er Jahre verliert die Künstlerin aber auch zunehmend den Kontakt zu künst­lerischen Kreisen in Polen, jedenfalls hat sie dort nach 1967 praktisch keine öffent­liche Ausstellung mehr. Ihr späteres Schaffen dürfte kaum den Bekanntheitsgrad des früheren erreicht haben. In den Jahrzehnten nach ihrem Tod beschäftigt man sich aber vor allem in Polen mit ihrem Werk. Eine erste umfassendere Ausstellung fand 1975 im Muzeum Sztuki in Lodz statt – unterstützt von ihrer Familie.

Alina Szapocznikow hatte zu Lebzeiten nur sehr bedingt Arbeiten in privaten Sammlungen platzieren können. So befand sich nach ihrem Tod der größte Teil bedeutender Arbeiten im Nachlass – abgesehen von denen, die eine Bleibe in polnischen Museen gefunden hatten (besonders zu erwähnen: Lodz). Nach ihrem Tod war dieser künstlerische Nachlass zu­nächst jedoch gesplittet zwischen ihrem Sohn Piotr Stanislawski und ihrem zweiten Mann, Roman Cieslewicz. Ein erschwerendes Hemmnis oder gar Hindernis, um eine Ausstellung vorzu­bereiten und Werke aus verschiedenen Quellen zusammen zu bringen. Seit dem Tod von Roman Cieslewicz in 1995 ist der Nachlass wieder vereinigt. Anda Rottenberg berichtet, dass sie eine Chance für eine umfassende Ausstellung gekommen sah. Diese Ausstellung, besser Retrospektive, fand dann von ihr kuratiert in Warschau 1998 statt, begleitet von einem ersten umfassenden Katalog zum Oeuvre. Zwei weitere wichtige Kataloge wurden anschließend, begleitend zu Ausstellungen in Polen, erarbeitet. Das Gesamtwerk, zum einen das der Skulptur (2001), zum anderen das der Zeichnungen (2004), war damit erstmals erfasst und für den Interessierten überhaupt sichtbar gemacht. Diese Basisarbeit in Polen bewirkte, dass Werk und Haltung der Künstlerin mehr und mehr wahrgenommen wurden. Dieser Prozess verlief dann weitgehend parallel mit einer neuen Aufmerksamkeit im Westen für jüngere polnische Kunst und deren Präsenz und kommerziellen Erfolg im Handel.

Die Ausstellung der Arbeiten von Alina Szapocznikow im Kunstparterre München ist auch eine Gegen­überstellung zur Ausstellung über Paul Thek in diesen Räumen, die 2003 stattfand. Viele Arbeiten von Paul Thek berühren letztlich ein religiöses Anliegen. Themati­siert wird Leben und Vergänglichkeit im Kreislauf der Welt. Er war beim Besuch der Katakomben in Palermo Anfang der 60’er Jahre fasziniert von den toten Körpern, vor allem, dass ein Raum damit 'dekoriert' war. Der (tote) Körper als Relikt; die Reliquie. Seine frühen plastischen Arbeiten, zumeist unter dem Titel ‚technologische Reliquiare’ subsumiert, greifen das auf. Mit den 'Meat Pieces' (detailgenau aus Wachs geformte und bemalte Fleischstücke) wollte er Mitte der 60’er Jahre Emotionen in der sonst coolen New Yorker Welt der Minimal Art auslösen. In seinen Installa­tionen griff er die Mythen der Kulturge­schichte auf (Arche Noah, Turmbau zu Babel, die Pyramiden und den Totenkult). Der frühe Höhepunkt dieser Arbeiten ist 'The Tomb', 1967: Paul Thek liegt als Toter (aus dem Zeitgeist heraus als 'Hippie' bezeichnet) ‑eine Replik seines ganzen Körpers‑ in einer Pyramide. Vorbereitend hatte er schon Abgüsse von Körperteilen hergestellt. 1968 entsteht in Europa, wo er dann lebt, eine weitere Ganz­körper­abfor­mung aus Latex, der 'Fishman'. Thek’s aus Abformungen entstandenen Objekte sind Repliken des Körpers und suggerieren eine organische Körper­lichkeit. Evident wird dies bei Objekten einzelner Gliedmaßen, deren Endstelle als offene Wunde gestaltet ist.

Alina Szapocznikow’s frühe Körperabformungen sind Fragmente der zumeist empfind­lichsten Körperzonen, der Mundpartie mit den Lippen, der Brust, später des Arsches. Stücke der Körperhülle. Mit der aus dem Körperabdruck gewonnenen Form stellte sie seriell Werk­stücke her. Deren seriell/industrieller Warencharakter wird durch das neuartige in der Kon­sum­industrie aufgekommene Polyester unterstrichen und von der Künstlerin explizit zur Schau gestellt, wenn sie gleiche Werkstücke mehrfach in Skulpturen einbaut. Ein auch in der Pop Art verwendetes Prinzip. Auf den einmal erarbeiteten Fundus von Werkstücken greift sie immer wieder zurück, auch Jahre später. Zu Beginn fügte sie davon einzelne in schon beste­hende Skulpturen ein, später arrangiert sie zunehmend verschie­dene Werkstücke zusam­men, in immer neue Kombinationen. Es entstanden Assemblagen ver­schiedener Körper­fragmente, die selbst Warencharakter haben (wie Ersatzteile). Der Be­trachter realisiert sofort, dass es sich nicht um organische Körperteile handelt. Ein wesent­licher Unter­schied zu Arbeiten von Paul Thek. Alinas Körperfragmente behalten den Charakter von Hüllen und Schalen, die von innen beleuchtet werden können und manchmal als Lampen daher kommen. Selbst wenn sie später den ganzen Körper ihres Sohnes abformt, erscheint diese Skulptur wie eine zerbrechliche Hülle.

Überraschend, dass die Künstlerin bei all ihren Material­experimenten eine klassische Bild­hauerin geblieben ist. Ihre Skulpturen sind immer Einzel-Objekte, sie baut keine Rauminstal­lationen, die Arbeiten entstehen nicht in Happenings, sondern in einem traditionellen Werk­prozess des Ateliers. Es ist bemerkenswert, dass bestimmte Themen und Formen sich durch das frühere und spätere Werk hindurch ziehen. Exem­plarisch sei hier (in der Aus­stellung) auf das aus klassischen Antike überlieferte Motiv der Siegesgöttin 'Nike' hingewie­sen. Die kleine Skulptur von 1959 ist wahr­scheinlich ein Bozetto für eine größere Aus­führung, durchaus ließe sich an ein öffentliches Monument denken. Tatsächlich kann sie später, 1963, eine andere 'Nike' für einen öffent­lichen Platz schaffen. Sie verwendet in dieser Skulptur Teile alter Waffen aus dem zweiten Weltkrieg. Als Statuette für die Haube eines Rolls-Royce erscheint 1970 wieder eine ge­flügelte Nike (wohl im Bezug zu ihrem 'american dream', ein solches Fahrzeug in rosa Marmor schaffen zu dürfen – be­zahlt von einem kunstliebenden Millionär). Schließlich lässt im Objekt Fetisch VI, 1971 ein mit Polyester verfestigtes Hemd, das aus einer (abge­formten) Arschbacke empor­schwebt, an eine Nike-Erscheinung denken.

Ein weiteres durchgängiges Thema wären ihre Köpfe, die sich im Werk von Beginn an bis zum Ende finden. Allein zwei Selbstporträts würden das Spektrum aufzeigen. Einerseits die Arbeit von 1948, eine klassisch in Gips modellierte Büste, auf Sockel montiert. Andererseits die Arbeit 'Tumeurs personnifiées' von 1971 aus Polyester: Mehrere Exemplare ihres eigenen Kopfes liegen wie zufällig über den Boden verstreut, auf die der Betrachter von oben herab schaut. Im Arbeitsprozess dafür hatte die Künstlerin eine Maske vom eigenen Gesicht, ja vom ganzen Kopf abgenommen und damit zunächst ein 'Selbstportrait' aus Gips ge­schaffen. Dieser war Ausgangspunkt der Exemplare aus Polyester. Da das Material in der ersten Phase des Formens relativ weich ist, konnte sie jedes einzelne verschie­denartig verformen. Interessant, dass in beiden Fällen eine Reihe von Zeich­nungen vorhanden sind, die im Wechselspiel zu diesen Skulpturen stehen. Ihre Linien sitzen frei auf dem Blatt. Freie Formen und Skizzen, wie in den Tuschezeichnungen aus 1970/71, die ein Thema erkennen lassen: (das eigene) Portrait mit deformierten Gesicht. Keine eigent­lichen Bildhauerstudien, um Form oder Konstruktion von Skulpturen zu klären. Vielmehr lotet sie mit diesen das künstlerische Thema erst aus, wie ich meine. Deshalb können, ja müssen die Zeichnungen ganz selbstständig neben dem plastischen Werk stehen. Die beiden farbig gefassten Zeichnungen von 1971/72 in der Ausstellung dürften Portraits ihres Sohnes Piotr sein (Kopf sowie Oberkörper). 1972 entstanden darauf Bezug nehmende Skulpturen aus Polyester – ihre letzten Arbeiten.

Harald Spengler




 

© KUNSTPARTERRE