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10.04.2010-09.2010


Skulpturen und Zeichnungen von Alina Szapocznikow




TEXTEinformation:

Alina Szapocznikow lebte von 1926 bis 1973. Nach den auch für sie und ihre Familie sehr schweren Kriegsjahren in Polen begann sie 1945 erst in Prag, dann in Paris ihre Ausbildung und entwickelte sich zu einer internationalen Künstlerin mit einem vielseitigen Werk von Skulpturen und Zeichnungen. Im Zentrum ihrer Arbeiten steht der menschliche Körper. Ihr Interesse daran leitete sie in unruhigen politischen Tagen von der Unbeständigkeit des Lebens ab (frei übersetzt): Unter all den Symptomen der Unbeständigkeit ist der menschliche Körper das empfindlichste, die einzige Quelle aller Freude, allen Schmerzes und aller Wahrheit.

Ihre Arbeiten beeindrucken durch die Vielfalt und den Reichtum ihrer Inhalte, ihrer Formen und der dabei verwendeten Materialien.

Alina Szapocznikow lebte und arbeitete vorwiegend in Warschau und in Paris. Sie nahm an vielen Ausstellungen teil. Nach ihrem frühen Tod finden in jüngster Zeit ihre Werke wieder besondere und internationale Beachtung. Es zeigt sich, dass ihr Werk auf der Höhe der Zeit war und vielfach ihrer Zeit voraus.

Dank an Isabella Czarnowska, Berlin, für ihre Ermunterung und Unterstützung. Ebenso herzlichen Dank allen Leihgebern, die es ermöglichten, dass im Kunstparterre ein Einblick in das Werk von Alina Szapocznikow möglich wird.






Eine Einführung durch Isabella Czarnowska.

Im Kunstparterre München wird zum ersten Mal in Deutschland eine umfangreiche Gruppe von ausgewählten Skulpturen und Zeichnungen von Alina Szapocznikow gezeigt. In Deutschland konnte man bisher 2007 ihre Arbeit mit dem Titel „Fotoskulptur“ in der Documenta IX in Kassel sehen. Zeitgleich fanden Ausstellungen in Galerien statt.

Die politische und gesellschaftliche Transformation Zentraleuropas nach 1981, eng mit der Bewegung der Solidarnosc verbunden, ermöglichte vom europäischen Westen aus einen Einblick in die Geschichte der zeitgenössischen Kunst in Ländern des ehemaligen Ostblocks, wie selbstverständlich auch die Neubewertung der eigenen Kunstgeschichte dieser Region. Bis zu diesem Zeitpunkt vertrat der europäische, demokratische Westen generell die Haltung, dass im kommunistischen, totalitären Ostblock keine Kunst entstehen kann. Aus historischen und politischen Gründen konnte das Werk von Alina Szapocznikow im europäischen Westen nur nachträglich sichtbar gemacht und rezipiert werden.

An dieser Stelle möchte ich darüber sprechen, wie die Biographie und das künstlerische Werk von Alina Szapocznikow mit der politischen Problematik West- und Osteuropas in der Nachkriegszeit zusammenhängt.

Alina Szapocznikow wurde 1926 in einer Provinzstadt in einer jüdischen Familie in Polen geboren und starb 1973 in Paris. Ihre Mädchenzeit verbrachte sie mit ihrer Mutter in Ghettos und anschließend in Konzentrationslagern. Ihre Mutter war Ärztin und wurde von Kommandanten der Konzentrationslager dazu aufgefordert, die Kranken zu versorgen. Die 15-jährige Tochter war an ihrer Seite als Gehilfin tätig.

1945, nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen durch die Rote Armee wurden sie nach Prag geschickt. Im Alter von19 Jahren schrieb sich Alina Szapocznikow in Prag an der Kunstakademie ein und fing eine klassische Bildhauerausbildung an. Ihre Mutter kehrte nach Lodz, Polen, zurück.

Zwei Jahre später, im Jahr 1947, reiste Alina Szapocznikow aus Prag nach Paris aus. Dort trieb sie sich als eine Art „freie Hörerin“ an der Kunstakademie herum. Zwischen 1947 bis 1950 formierte sich in Paris ein Kreis von jungen Menschen, die in derselben Lebenssituation waren wie Alina Szapocznikow. Den Kreis, dem sie angehörte betrachtete und nannte man in Polen damals gern „den polnischen Salon". Eine scherzhafte Bemerkung meiner Mutter lautete einmal: Nach dem niedergeschlagenen Januar-Aufstand im XIX Jahrhundert von 1863 gegen die zaristisch-russische Besatzung in Polen waren alle polnischen Emigranten in Paris Aristokraten und Pianisten, nach der russischen Oktoberrevolution 1918 Taxifahrer. Nach dem zweiten Weltkrieg jedoch ließe sich der soziale Wandel der Menschen nicht mehr zuordnen und Paris blieb für die Künstler aus dem europäischen Osten das, was für den europäischen Westen New York wurde.

In Paris lernte Alina Szapocznikow Ryszard Stanislawski kennen, der dort Mathematik studierte. An ihrer Seite fing er ein Kunstgeschichtsstudium an. Sie heirateten.

1950 verschärften sich die polnisch-französischen Verhältnisse. Bis dahin konnte der Freundeskreis hin und her reisen. Dieser Freundeskreis um Alina Szapocznikow und Ryszard Stanislawski war in Frankreich lediglich geduldet und wurde von Polen aus zunehmend zu einer Rückkehr nach Polen angeworben und von der französischen Seite aus dazu angehalten, Frankreich zu verlassen. 1951 kehrten Alina Szapocznikow und Ryszard Stanislawski wie auch alle anderen, die man heute in Polen als bedeutende Schriftsteller und Filmemacher kennt, nach Polen (Warschau) zurück. Dieser junge Freundeskreis wollte und sollte den Sozialismus mitaufbauen, eine in ihren Augen gerechtere Weltordnung. Dazu waren sie entschlossen, dazu wurden sie auch verführt.

Alina arbeitete als Bildhauerin, ihr Mann Ryszard Stanislawski baute das erste und einzige Museum für moderne Kunst im gesamten Ostblock auf, das berühmte Muzeum Sztuki in Lodz. Dabei wirkten der Maler Wladyslaw Strzeminski und dessen Frau, die Bildhauerin Katarzyna Kobro, mit. Diese beiden Künstler kamen aus dem sowjetischen Gulag nach Lodz, sie waren enge Freunde und Weggefährten von Kasimir Malewitsch. Übrigens lebten die Eltern von Malewitsch zwar in der Ukraine, waren aber Polen. Malewitsch sah sich selbst dem St. Petersburger- und dem Moskowiter Künstlermilieu verbunden, nicht einer nationalen Gesinnung.

Alina Szapocznikow nahm Staatsaufträge für Denkmäler an, repräsentierte Polen in offiziellen Ausstellungen, u.a. der Biennale in Venedig und wurde zu einer Art Staatskünstlerin und als solche sehr bekannt. Innerhalb ihres Werkes in dieser Zeit setzte sich die sozrealistische Doktrin durch. Ab dem Jahr 1955, wie ich meine, wird in ihrer bildhauerischen Arbeit die politische Desillusionierung sichtbar.

Hier in der Ausstellung ist die Skulptur mit dem Titel „Portrait Barbara Kusak“ von 1955 zu sehen. Es ist ein ca. 70 cm hoher Kopf aus Gips, mit drei Farben beschichtet. Im Ausdruck ganz sozrealistisch, grob modelliert, in der Farbigkeit jedoch „red, yellow and blue“, also einer anderen Zeit verpflichtet - der Zeit des Konstruktivismus vor dem Zweiten Weltkrieg. In der Arbeit Szapocznikow’s ist der ganze Optimismus dieser jungen Frau, eine gerechtere Welt bauen zu wollen, sichtbar. Die Porträts ihrer Freunde stehen an der Schnittstelle und leiten einen Rückzug der Künstlerin vom öffentlichen Auftrag, der identisch gewesen ist mit der stalinistischen Staatsdoktrin, in das Persönliche, später in Intime in ihrem Werk, ein.

Dazwischen liegt in ihrer künstlerischen Entwicklung die Zeit der autonomen Skulptur, indem sie keinem staatlichen Auftrag verpflichtet ist. Diese umfangreiche Werkgruppe findet ihre Anlehnung an die Formensprache des Informell und bleibt innerhalb dessen dennoch sehr eigenständig. Eine eindrucksvolle Skulptur aus dieser Zeit von 1960, trägt den deutschen Titel „Gespalten“ und ist hier in der Ausstellung zu sehen. In dieser Zeit ab 1960 fing die Künstlerin damit an, dem Körper im übertragenen Sinne einen ihm fremden Körper, d.h. Fremdkörper, zuzufügen. Sie arbeitete mit klassischen Bildhauermaterialien wie Stein, Gips, Marmor, Bronze und fügte ihren Formen industrielle Fertigbauteile hinzu, wie z.B. den Auspuff eines Autos. Fortan behielt sie in ihrem Gesamtwerk das Thema des Zusammentreffens eines Körpers auf einen Fremdkörper bei.

Die mittelgroße Skulptur „Gespalten“ besteht aus einer eindeutigen Vorder- und Rückseite. Sie hat die Fragmentierung und Frakturierung des menschlichen Körpers zum Gegenstand. Durch den souverän hohen Grad der Abstraktion lässt die Künstlerin offen, welcher der menschlichen Körperteile für sie hier das Thema ist. Ich neige dazu, von einer Öffnung durch Verwundung des Brustkorbs auszugehen. Bei der Vorderansicht hat man den Eindruck, den ausgedehnten, leicht offenen Torso zu sehen. Bei Betrachtung der Rückseite wölbt sich die Form konkav nach innen. Aus dieser Anspannung entsteht im übertragenen Sinne eine Verletzung der darunter liegenden Struktur. Die Verletzung ist durch die Einarbeitung von bernsteinfarbenen Polyesterkristallen und nach Außen geknickten Eisenstäben deutlich auf der Vorderseite zu sehen. Eigentlich könnte die Arbeit den Titel "Die Wunde" tragen, aber die Künstlerin hatte nicht banal gedacht. Meines Wissens handelt es sich um die allererste Skulptur der Künstlerin, die sie aus Polyester gefertigt hatte. Sie hat in diesem Fall den durchsichtigen Polyester mit braunem Pigment eingefärbt. 1962 vertrat Alina Szapocznikow Polen auf der Biennale in Venedig und zeigte dort diese Skulptur. In einer imaginären Ausstellung in meiner Vorstellung würde ich sehr gern diese Skulptur neben eines der Gemälde von Georg Baselitz aus der Serie „Die Rückkehr der Helden“ vom Anfang der 60er Jahre sehen.

Zurück zur Biographie der Künstlerin.
Das Ehepaar Szapocznikow / Stanislawski trennte sich. Sie lebte ab 1958 mit Roman Cieslewicz zusammen, einem heute bekannten Graphiker und Plakatkünstler. Alina Szapocznikow’s Mutter starb 1963 in Lodz. In demselben Jahr verließen Szapocznikow und Cieslewicz Polen und emigrierten noch einmal nach Paris. Bis 1968 konnte die Künstlerin immer noch zwischen Frankreich und Polen hin und her reisen. 1968 jedoch wurde ihr die Rückkehr nach Polen aufgrund der massiven, antisemitischen Welle auf der Seite der polnischen Regierung endgültig verwehrt. In der Zeit in Paris entstanden dann Werkgruppen aus Polyester und Polyurethan, die die Künstlerin „Fetische“ und „Desserts“ nannte. 

Sie ließ die internationale Moderne, den Sozrealismus und das Informell hinter sich und, um Anda Rottenberg zu zitieren: „Ihr Werk bekommt eine ontologische Dimension, geprägt von Lebensaffirmation und physiologischer Geschlechtlichkeit. Sie füllte ihre Skulpturen mit sich selbst aus, sie vervielfältigte ihr Sein durch Abdrücke ihrer Lippen, ihrer Brüste und ihres Bauches, ihrer Füße, ihrer Hände.“ Sie befasste sich mit der Fragilität des intimen Erlebens.

Sehr eindrucksvoll sind die Werke, in denen sie die Jugend ihres Sohnes verewigt hat. Kurz vor ihrem Tod arbeitete sie mit allerlei Deformationen des Körpers.

1973 starb sie in Paris.

In demselben Jahr hat Susanne Page in Paris im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris eine Ausstellung des Spätwerkes der Künstlerin gemacht. Den Text dazu steuerte Pierre Restany bei.

Eine Skulptur mit dem Titel „Lampe (Bouche I)“ ist hier in der Ausstellung zu sehen. Sie ist in Paris im Jahr 1967 entstanden. Es ist ein Gebrauchsgegenstand aus Polyester, hergestellt im Verfahren sowohl eines Abdruckes wie auch eines Gusses. Das Volumen dieser Skulptur ist im Unterschied zu dem Kopf von „Portrait Barbara Kusak“ auf den roten Mund reduziert. Aus den roten Lippen dort wurde hier der gesamte Mundraum, der Ort, der – im menschlichen Körper wie die Hand- für eine taktile Berührung mit der Welt zuständig ist. Denn es ist der Ort für Nahrungsaufnahme, Sprachartikulation und Sexualität. Dieser Ort wird hier mechanisch aktiviert und mit Energie versorgt, zum Leuchten gebracht.

Eine weitere Skulptur in dieser Ausstellung von 1967 trägt den Titel „Bouche en Marche“. Lassen Sie mich bitte die gesamten Assoziationen benennen, die bei der Betrachtung dieser Skulptur hervorgerufen werden können: Januskopf, flächige, schattenhafte Darstellungen im Profil aus dem Reich der Toten in Ägypten, halb entblößte Negligees als Jugendstillampen, Alberto Giacomettis schreitende Figuren, Blumendarstellungen. Zurück zum Januskopf.Zwei Lippenformen aus Polyester, rot eingefärbt, sind miteinander so verbunden, dass die Form voluminös wirkt. Im Unterschied zu einem Januskopf sind die Lippenformen räumlich so versetzt, dass eine gewisse Unordnung herrscht und die Skulptur sogar mit der Form eines Kopfes assoziiert werden könnte. Es ist wohl so gedacht, dass das Volumen des Kopfes auf die beiden Mund- und Lippenräume reduziert worden ist. Wenn man die Lippenformen näher betrachtet, ist die eine optimistisch nach oben gerichtet, d.h. empfangend, und die andere leicht verschlossen nach unten zeigend. Möglicherweise ist das ein Ausdruck von Resignation. 

Zu sehen ist hier auch eine Wandskulptur von 1968 mit dem französischen Titel „Plongée“.
Sie ist eine von drei vergleichbaren Skulpturen der Künstlerin, in denen sie ihre eigene Büste, und zwar als Abguss aus Polyester, in die flüssige Masse des schäumenden Materials – Polyurethan - versenkt hat. Beide Materialien sind ursprünglich Flüssigkeiten. Im Prozess der Erstarrung wird Polyester hart, wogegen Polyurethan weich bleibt. Diese Skulptur bezieht sich geradezu meisterhaft auf das Zusammentreffen zweier gegensätzlichen Materialien.

Es ist erstaunlich und überraschend, dass Alina Szapocznikow bei all ihren Materialexperimenten eine klassische Bildhauerin geblieben ist.

Der Austausch mit Künstlerfreunden aus dem Umfeld des Nouveau Réalisme in Paris hatte ihr Interesse an der Präsenz des menschlichen, in ihrem Spätwerk ausnahmslos weiblichen Körpers nicht erschüttern können. Ihr Gesamtwerk schliesst sie jedoch mit einem sehr eindrucksvollen, mehrteiligen Relief mit dem Titel „Herbarium“ ab. In dieser Arbeit wird der Polyesterabdruck ihres eigenen Körpers und des ihren Sohnes komplett flach auf eine Rückwand montiert. Man wird dabei an eine Handlung, die uns allen vertraut ist, erinnert – das Blatt eines Baumes oder eine Blume zwischen die Seiten eines Buches zu legen, was dadurch flach gepresst und so bewahrt wird.

Während der ganzen künstlerischen Laufbahn war Alina Szapocznikow auch eine sehr interessante Zeichnerin. Im Kunstparterre sind Zeichnungen und Monotypien von 1959 bis 1971 zu sehen.

Das zeichnerische Werk erfasst alle Genres der Zeichnung: Nachahmungen, Entwürfe, Skizzen, freie Formfindungen und Abdrücke.

Nach Alina Szapocznikow’s Tod fanden in Polen zwei wichtige Ausstellungen ihres Werkes statt: Die erste 1975 im Muzeum Sztuki in Lodz, kuratiert von Ryszard Stanislawski, ihrem ersten Mann. Die zweite 1998 in Galeria Zacheta in Warschau, kuratiert von Anda Rottenberg.

Es freut mich ganz besonders, die Arbeiten von Alina Szapocznikow hier im Kunstparterre nach der Ausstellung eines anderen großen Künstlers, Paul Thek, zu sehen. Im Zentrum der Arbeit von Paul Thek steht die Auseinandersetzung mit Reliquien, demnach die Frage nach dem Rituellen, Religiösen und Profanen. Im Zentrum der Arbeit von Alina Szapocznikow steht der Fetisch, demnach die Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit der Verdopplung, der Unentbehrlichkeit des Ersatzes um eine Leerstelle, die nicht geschlossen werden kann.

 

Isabella Czarnowska, 2010

© KUNSTPARTERRE